
«Wenn ich im Büro eine E-Mail an den richtigen Empfänger sende, jubelt niemand.»
Seit 18 Jahren steht Marc Winkler (37) im Tor von Wacker Thun. Im Gegensatz zu seinen Goalie-Kollegen in anderen Sportarten arbeitet der Familienvater aber zusätzlich 70 % im Büro. Athletes Network begleitet ihn auf seinem Weg zur Karriere neben der Karriere.
Goalies sind die Wahnsinnigen unter den Handballern. Abgesehen vom Eierbecher (ugs. für Suspensorium) werft ihr euch ohne Deckung in jeden Ball und haltet den Kopf hin, wo ihn andere wegziehen. Wieso um alles in der Welt wolltest du ausgerechnet Goalie werden?
Also, es gibt auch solche, die ohne Eierbecher spielen. Die sind aus meiner Sicht wirklich wahnsinnig. Hm, gute Frage: Warum Goalie? Man sagt ja immer, dass die, die nicht gerne rennen, im Tor stehen. Mit der neuen Regelung mit sieben Feldspielern stimmt das mittlerweile aber auch nicht mehr ganz, weil man auch als Goalie zwischen Bank und Tor hin und her wechselt. Das tönt jetzt vielleicht etwas übertrieben, aber mich hat der schmale Grat zwischen Depp und Held schon früh fasziniert. Unsere Position ist sehr isoliert. Goalies, egal in welcher Sportart, sind die Coolen. Feldspieler gibt es viele Gleiche – Goalies hingegen haben etwas Spezielles. Im Eishockey heben sie sich mit ihrer Ausrüstung ab; in den meisten Sportarten stehen immer so ein bisschen alleine rum.
Als Giel bei den Junioren spielst du ja eh überall, aber irgendwann hat sich die Position im Tor gefestigt. Und ich habe mich, glaube ich, dort auch nicht komplett verkehrt angestellt. Darum bin ich dort geblieben. Abgesehen davon: Ich persönlich finde es eigentlich fast wahnsinniger, sich dort vorne am Kreis oder im Rückraum diesen zwei Meter grossen und 110 Kilogramm schweren Türmen, die über dich drüberwalzen, entgegenzustellen. Da hätte ich mehr Respekt als vor einem Ball, der mal irgendwo am Körper landet.
Nehmen wir zum Vergleich kurz mit einen anderen berühmten Schweizer Goalie: Yann Sommer. Er ist vom Alter her…
…ähnliche Schublade…
…ein Jahr jünger als du, arbeitet aber nicht 70 % neben der Sportkarriere. Macht dich das ein wenig neidisch, wenn du Handball mit anderen Sportarten, wo richtig viel Geld geschüttet wird, vergleichst?
Es ist, wie es ist, wobei ich «neidisch» das falsche Wort finde. Mit Neid kannst du dir auf dieser Welt ja nichts kaufen. Klar: Die Summen, die in gewissen Sportarten herumgeschoben werden, haben jede Relation zur Gesellschaft verloren und sind für mich nicht nachvollziehbar. Erkläre mal einem Maurer, der meiner Meinung nach einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leistet, plausibel, wieso er nur einen Bruchteil von gewissen Sportlern verdient. (*) Aber das hat sich einfach so entwickelt, und diese Stars leisten auch viel. Ausserdem fühlt es sich an, als sei ihr Privatleben öffentliches Gut. Da haben wir es als Handballer bedeutend einfacher.
Ich finde halt, dass viele andere Sportarten ein Schattendasein fristen. Handball, Unihockey, Volleyball – du weisst es selbst. Der Aufwand, den diese Athletinnen und Athleten betreiben, ist ebenfalls sehr hoch, nur dass wir nebenher ganz normal arbeiten. Das ist eine Leistung, die einen gewissen Respekt verdient, finde ich. Aber nochmals: Ich bin nicht neidisch. Klar, wenn jemand kommt und sagt: «Hier, Marc, du kannst noch zwei Jahren für das Salär von Yann Sommer spielen», würde ich wahrscheinlich zusagen.
* Laut dem Portal «Fussballtransfers» hat Yann Sommer bei Inter Mailand einen Vertrag über € 3,28 Mio im Jahr. Auf Platz 1 der Torhüter steht Manuel Neuer (Bayern München, 39 Jahre) mit einem Jahreslohn von € 20,6 Mio. Bestbezahlter Feldspieler ist aktuell Cristiano Ronaldo (Al Nassr, 39 Jahre) mit umgerechnet € 195 Mio jährlich. Samantha Kerr (FC Chelsea, 31 Jahre) verdient als bestbezahlte Fussballerin hingegen vergleichsweise läppische € 578’000 im Jahr.
Die nächste Runde würde dann einfach auf dich gehen.
Genau.
Du hast das KV gemacht, arbeitest zu 70 % in der Fachstelle Sport der Stadt Thun, beherrscht neben 6-Meter-Raum also auch Büro. Welches sind aus deiner Sicht Sportlerqualitäten, die du in all deinen Jahren Handball gelernt hast und ins Berufsleben einbringen kannst?
Disziplin und Eigenverantwortung. Ich war sicher nicht komplett talentfrei – aber auch nie das Supertalent, das von allen Seiten gehypt wurde und dem eine Karriere in der Nati A und vielleicht sogar in der Nationalmannschaft vorausgesagt wurde, sondern immer ein Spieler, der relativ diszipliniert arbeitete, vor allem eine hohe Eigenverantwortung hatte und bereit war, das Schrittchen mehr zu gehen, um besser zu werden – und auch dann für deine Mannschaft zu arbeiten, wenn niemand hinschaut, wenn du keinen Applaus dafür bekommst.
Diese Teamfähigkeit ist etwas, was sich sehr gut in die Arbeitswelt integrieren lässt. Ich bleibe auch mal im Berufsleben ein bis zwei Stunden länger und helfe mit, wenn ich am Abend später oder kein Training habe. Das sind aus meiner Sicht Qualitäten, die sowohl auf dem Platz als auch im Büro gefragt sind. Und generell: Wenn du auch mal versuchst, dir selbst zu helfen und nicht bei jedem Problem gleich den Kopf in den Sand steckst. Sich Gedanken machen und Einsatz und Zeit investieren. Wie kann ich ein Problem lösen? Wie kann ich behilflich sein? Das ist schon etwas, das ich im Handball gelernt habe. Man muss bereit sein, sich selber zu organisieren und Lösungen zu finden. Ein Beispiel aus meiner Lehrzeit: Eigentlich hätte ich bis 17 Uhr arbeiten müssen, aber dann fing bereits das Training an. Also war ich morgens eine halbe Stunde früher im Büro und machte eine halbe Stunde lang weniger Mittagspause, damit ich rechtzeitig im Training sein konnte.
Wacker Thun ist Clubpartner von Athletes Network, und auch du bist als Athlet dabei. Wie und wann kam der Kontakt zustande? Wie kannst du das Netzwerk nutzen?
Der Kontakt kam zustande, als Martina Moser (Clubs & Associations Relations) bei uns im Verein Athletes Network vorstellte. Das war in einer Lebensphase, in der ich mich gerade mit einem allfälligen Jobwechsel auseinandersetzte. Anschliessend nahm ich mit ihr Kontakt auf, um zu schauen, welches Coachingangebot für mich am meisten Sinn machen würde. Ich hatte mein erstes Kennenlerngespräch mit Dave Heiniger (Co-Founder, CEO und Coach), der mir von Anfang an sehr sympathisch war – vor allem auch auf der menschlichen Ebene, was mir für die Zusammenarbeit sehr wichtig ist.
Im Verlauf des Coachings stellte sich heraus, dass ich das Netzwerk von Athletes Network gar nicht zwingend brauche. Thun ist relativ klein, man kennt sich. Mir war schlichtweg nicht bewusst, über welches Netzwerk ich dank des Sports bereits selbst verfügte! Dave half mir aber dabei, das Ganze in Bezug auf meine Lebenssituation zu spiegeln. Er schaute sich das Berufliche und das Sportliche im Gesamtkontext meines Lebens an, was mir mega gefiel. Also betrieb er bei mir eigentlich Hilfe zur Selbsthilfe. Es war nicht so, dass ich sagen musste: «Hey, organisiert mir ein Vorstellungsgespräch bei irgendeinem Bereichsleiter von Sunrise, deichselt mir hier irgendwas.» Das brauchte ich nicht. Dave half mir vor allem aufzuzeigen, welche Möglichkeiten ich bereits hatte. Er hat mich vor allem ermutigt, die Leute und mein bestehendes Netzwerk anzuzapfen. Damit tat ich mich vorher immer ein bisschen schwer. Er begleitete mich durch den Entscheidungsprozess für den neuen Job und hatte somit einen sehr wesentlichen Anteil daran, dass ich jetzt in einem coolen Ort sein darf, der mir mega Spass macht.
Du spielst auch mit jungen Spielern zusammen. Kannst du ihnen Tipps geben, wie sie ihr Doppel-leben mit Spitzensport und Berufsleben auf die Reihe bekommen?
Ja, das denke ich schon. Es ist sicher nicht so, dass ich jeden Tag in der Halle rumlaufe und jedem aufs Brot schmiere, wie ich meine Karriere gestaltet habe und das jetzt alle genauso machen sollen. Sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen und ihren eigenen Weg gehen. Aber bei jungen Spielern, die mit ihrer Situation ein wenig struggeln, merke ich: Ja, das habe ich ähnlich durchgemacht. Da kann ich dem Einen oder Anderen schon ab und zu helfen – vielleicht auch schon nur, indem ich sage: «Schau, das ist im Fall normal. Es ist völlig klar, dass du jetzt etwas am Zweifeln bist und ein bisschen zwischen Stuhl und Bank fällst.» Natürlich habe ich da nicht immer die perfekte Lösung parat. Aber wenn einer wirklich einen Rat von mir möchte, kann ich aus einem gewissen Erfahrungsschatz schöpfen und junge Spieler unterstützen.

Im Gegensatz zu früher können sich junge Athletinnen und Athleten heute sowohl auf ihre Sportkarriere konzentrieren und gleichzeitig parallel eine Ausbildung machen. Diese Rahmenbedingungen zu verbessern, ist eines der Ziele von Athletes Network. Es gibt aber immer noch viele Eltern, die den Standpunkt vertreten: Mach zuerst eine Ausbildung oder geh studieren, dann kannst du mit 25 noch immer Profihandballer werden, wobei der Zug dann bereits abgefahren ist. Falls jetzt Eltern dieses Interview lesen: Wie sollen sie mit der Situationen umgehen, wenn sie einen talentierten Sohn oder eine talentierte Tochter haben? Wie können diese Talente aus deiner Sicht auch selber mit ihren Chancen umgehen?
Das ist eine grosse Frage, woah. Das Thema «Eltern mit talentierten Kindern» ist delikat. Das habe ich selber erlebt, und das erlebe ich auch im Verein. Meine Eltern und die ganze Familie hat mit Handball nichts am Hut. Wir sind eine Bergsportfamilie. Skifahren und das ganze Zeug. Das interessierte alle, Handball aber niemanden. Was ich übrigens sehr schätzte. Meine Eltern sassen nie auf der Tribüne und haben sich nach dem Spiel beim Trainer beklagt, wenn ich nicht gespielt habe. Wenn Eltern ihren Kindern den Spass am Sport nehmen, ersticken sie die Karriere bereits im Keim. Ich finde Unterstützung super! Aber eben in einem Rahmen, in dem man Sport einfach grundsätzlich ermöglicht. Meine Eltern haben mich immer dann am besten unterstützt, wenn sie den Teigwarensalat für die Juniorenturniere und meine Wäsche machten.
Schöne Metapher, finde ich gut.
Für junge Athletinnen und Athleten gibt heute unglaublich viele Möglichkeiten, Sport, Ausbildung und Beruf zu vereinbaren. Die soll man auch prüfen, ausschöpfen und sich fragen: Was stimmt für mich als Mensch und als Athlet in diesem Abschnitt meines Lebens? Man darf ab und zu auch mal ein bisschen mutig sein, Risiken eingehen, ohne die eigene Sicherheit zu vernachlässigen oder einfach wegzuschmeissen. Sondern hier die Absicherung einer abgeschlossenen Ausbildung, dort sich auch mal ein, zwei Jahre zu geben, um völlig auf den Sport setzen zu können. Ich glaube, da muss jede und jeder seinen eigenen Weg finden.
Du bist seit 2007 bei Wacker Thun, also eigentlich schon fast mit dem Club verheiratet. In anderen Sportarten wie etwa Fussball hat man eher das Gefühl: Da trägt einer das Shirt deines Lieblingsvereins, aber nach gefühlten vier Monaten spielt der bereits wieder woanders. Hat es dich nie gereizt, den Verein zu wechseln? Oder bist du einfach eher ein Nesthocker?
Das sicher auch ein wenig. Ich muss mich dort, wo ich bin, wohl fühlen. Und ich bin auch ganz klar ein Heimwehberneroberländer, weil es für mich keine schönere Region gibt. Ich stamme von hier, bin hier aufgewachsen, gehe gerne weg und entdecke die Welt, komme aber auch unglaublich gerne wieder nach Hause. In meiner Juniorenzeit gab es noch kein Instagram oder YouTube, wo ich hätte schauen können, wie sonstwo auf der Welt Handball gespielt wird. Meine Helden trugen das Dress von Wacker Thun. Deshalb war immer mein Ziel, irgendwann einmal für diese Mannschaft zu spielen. Und ja, jetzt darf ich das seit 2007.
Wir Handballer sind sicher nicht ganz mit Fussballern vergleichbar. Bei uns gibt es diesen Personenhandel nicht in diesem Ausmass. Aber klar, es gibt in der Schweiz glaub aktuell niemanden, der mehr Spiele für einen einzigen Verein in der höchsten Liga gemacht hat als ich. Das ist sicher ein Zeichen. Ich bin ein loyaler Typ. Natürlich habe ich früher auch mal überlegt, eine andere Herausforderung zu suchen. Aber das Gesamtpaket bei Wacker Thun stimmte für mich halt so gut, dass ich trotzdem immer blieb.
Machen wir eine kurze Auslegeordnung. Wie sieht dein Leben neben dem Handball aktuell aus?
Dank der Unterstützung von Athletes Network konnte ich einen neuen Job angefangen und arbeite auf der Fachstelle Sport der Stadt Thun 70 % – also ein Job, der wie auf mich zugeschnitten ist. Wir sind das Bindeglied zwischen Sportvereinen und Verwaltung. Bei uns fliesst zum Beispiel alles durch, was Hallen- und Sportplatzbelegungen betrifft. Bei uns werden zum Beispiel die Förderbeiträge für den Jugendsport und den Nachwuchsleistungssport verarbeitet und ausbezahlt. Der freiwillige Schulsport ist ebenfalls dabei. Also wird alles, was in unserer Stadt irgendwie mit Sport zu tun hat, früher oder später in unserem Büro bearbeitet. Es ist für mich auch deshalb eine mega coole Stelle, weil ich viele Leute aus der Sportwelt Thuns und des Berner Oberlands kenne, also in den Clubs oder auch die Verantwortlichen der verschiedenen Infrastrukturen, was die Zusammenarbeit wiederum einiges einfacher macht. Das schafft auch Perspektiven über meine Handballkarriere hinaus.
Gleichzeitig habe ich noch nie in einem so hohen Pensum gearbeitet. Ich habe eine Familie, meine Tochter ist anderthalb Jahre alt, dazu 70 % im Büro und den ganzen Trainings- und Spielaufwand – viel Zeit für andere Sachen bleibt also nicht. Bei mir dreht sich bei alles um Arbeit, Sport, Familie und ab und zu Freunde. Und dann ist es wichtig, immer auch ein bisschen Zeit für sich selbst zu haben. Mit Kollegen ausgehen. Aber es ist schon so: Meine Tage sind momentan ziemlich vollgepackt; das merke ich.
Du arbeitest wie gesagt in der Fachstelle Sport der Stadt Thun. Welches sind deine beruflichen Ziele? Könntest du dir auch vorstellen, im Verein oder Verband zu arbeiten?
Ehrlich gesagt sehe ich meine Zukunft weg vom Handball. Wenn ich irgendwann die Schuhe an den Nagel hänge, habe ich glaub genug Zeit in Sporthallen verbracht. (lacht) Logisch schliesse ich das nicht aus, weil ich, wie du anfangs erwähnt hast, mit Wacker tatsächlich fast ein bisschen verheiratet bin. Ich bin zum Beispiel Junioren-Goalietrainer und möchte dem Verein etwas zurückgeben. Aber meine berufliche Zukunft sehe ich in der Fachstelle Sport der Stadt Thun, in der ich aktuell bin. Es ist eine riesencoole Möglichkeit für mich, die Bereiche Sport und Beruf noch mehr vereinen zu können, also Sport auf einer anderen Ebene weiter zum Beruf zu machen. Ich war im Verein immer ein loyaler Typ, und das bin ich jetzt auch im Berufsleben. Dort möchte ich mich persönlich weiterentwickeln. Der Job gibt mir Perspektiven über meine Handballkarriere hinaus. Da möchte ich mich weiterentwickeln.
Wie muss man sich als Nichtsportler eigentlich diesen massiven Unterschied vorstellen? Im Handball habt ihr eine volle Halle mit Fans, die euch lautstark unterstützen und unbedingt wollen, dass ihr gewinnt. Im Büro hingegen ist das Lauteste wahrscheinlich die Kaffeemaschine.
Darum schaue ich auch, dass die Kaffeemaschine möglichst viel läuft und auch da ein bisschen Betrieb ist. (lacht) Das grosse Thema, das jeden Leistungssportler nach seiner Karriere begleitet, ist Anerkennung. Das ist etwas, das du auf dem Sportfeld sehr unmittelbar und in einem sehr hohen Mass bekommst. Es gibt natürlich auch das Gegenteil, wenn es nicht so läuft. Klar, wenn wir gut sind, wenn ich einen Ball halte, dann jubeln die Leute auf der Tribüne. Das gehört letztlich zu meinem Job. Wenn ich hingegen im Büro eine E-Mail an den richtigen Empfänger sende, jubelt niemand. Damit hatte schon mancher Athlet seine Probleme – besonders im Hinblick auf die Nachkarriere. Es ist eine Herausforderung, aber aktuell finde ich den Kontrast schön: Ruhe im Büro und Trubel in der Halle. Wie es dann mal sein wird, wenn ich nicht mehr Handball spiele und der Applaus weg ist – und der ist schnell weg – und ich nur noch im Büro bin? Wie sich das anfühlt, kann ich dir erst später sagen.
Als Goalie kannst du ein paar Jahre mehr drauflegen als einer, der die ganze Zeit am Kreis rumrennen und sich die Fresse polieren lassen muss. Wie sieht die Planung deiner Sportkarriere aus?
Ich habe noch einen laufenden Vertrag für die nächste Saison, also bis Sommer 2026 und werde im Verlauf der nächsten Saison sicher ein bisschen weiter planen müssen oder dürfen. Weil ja, jetzt mit 37 werden andere Faktoren immer wichtiger: Familie und Job. Auf diese Themen werden wir sicher noch zu sprechen kommen. Ich kann nicht mehr wie mit 20 oder 25 einfach frei von der Leber weg entscheiden. Der sehr hohe Aufwand ist gesetzt im Leistungssport, und deshalb muss ich mich immer wieder hinterfragen: Passt das noch in das Gesamtkonzept meines Lebens? Bin ich körperlich noch bereit? Schliesslich muss mein Körper diese Belastung mitmachen. Die Leistung muss stimmen, das ist das Wichtigste. Der Verein muss mich immer noch wollen. Und ich muss Freude am Sport haben. Wenn diese grösste Triebfeder weg ist, macht es sowieso keinen Sinn mehr. Das Feuer habe ich auf jeden Fall noch immer in mir. Deshalb könnte ich mir durchaus vorstellen, dass es noch ein bisschen weitergeht im nächsten Sommer. Das werde ich aber erst im Verlauf dieser Saison entscheiden.

Die neue Meisterschaft läuft bereits. Ein Ausblick von deiner Seite also. Wie setzt du deine Prioritäten? Wie versuchst du, Sport, Job und Familie unter einen Hut zu bringen?
Organisation ist wahrscheinlich das grosse Stichwort. Ich möchte die Priorität am liebsten so setzen, dass jeder Moment, in dem ich gerade dran bin, oberste Priorität hat. Das geht aber nur, wenn ich meine Woche akribisch vorbereite. Das beginnt zum Beispiel beim Essen, geht weiter über die individuellen und Mannschaftstrainings und hin zur Frage, wann ich im Büro und wann im Homeoffice bin und wann ich Zeit für die Familie, Freunde oder für mich habe. Wenn ich gut plane, stellt sich die Prioritätenfrage gar nicht. Dann bin ich voll drin und kann sagen: Ok, jetzt bin ich zu 100 % im Büro und nicht im Kopf irgendwo anders – also nicht im Kraftraum, im Konditionstraining oder wo auch immer. Das kann ich für mich als Leistungssportler gut handhaben. Solange ich auf diesem Level Handball spiele, hat der Sport logischerweise eine höhere Priorität, sonst kann ich das nicht mehr machen. Es sind ein paar Stränge, die da parallel laufen. Aber wenn ich etwas mache, dann will ich es richtig machen.
Es bedingt neben einer guten Organisation auch die Unterstützung im engsten Umfeld. Meine Frau nimmt mir bei der Kinderbetreuung und im Haushalt enorm viel ab, obwohl sie in einem 70%-Pensum als Ärztin arbeitet. Sie verzichtet selbst auf einiges, um mich im Sport zu unterstützen. Dafür kann ich ihr kaum genug danken. Auch meine Mutter hilft uns als Familie. Und auch meine engen Freunde haben Verständnis, dass ich leider nicht so viel Zeit für sie habe, wie ich das gerne hätte, wofür ich ebenfalls sehr dankbar bin.
Wenn du im Handball einen Ball an den Kopf bekommst, ist das normal, bei einem Fussballer hingegen ein Drama. Handball ist schon ein bisschen intensiver.
Handball ist auf einer anderen Ebene intensiver. Bei uns ist der Körperkontakt mit den permanenten 1:1-Situationen halt omnipräsent. Aber klar, auch im Fussball prallt man schon mal aufeinander. Ich bin nicht der landläufigen Meinung, dass Fussballer Weicheier sind. Das sind Top-Athleten; das muss man sich bewusst sein. Was mich aber manchmal schon auch ein wenig stört, ist dieses Simulieren, das Zeitspiel und das ewige Lamentieren mit den Schiedsrichtern. Man darf nicht vergessen, dass das auch eine grosse Auswirkung auf Nachwuchssportler hat. Die Jungen sehen, wie sich einige ihrer grossen Vorbildern auf dem Feld benehmen und ahmen das dann nach, weil es scheinbar legitim ist. Das finde ich ein problematisch, weil Profifussballer so ihrer Vorbildfunktion nicht gerecht werden.
Du stammst wie gesagt aus einer Bergsportfamilie. Ist dein Trainer eigentlich happy, wenn du als Teamstütze von Wacker Thun Skifahren gehst? Hast du da völlige Freiheit? (Manuel Neuer brach sich am 09. Dezember 2022 abseits der Piste den rechten Unterschenkel und fiel als Torhüter von Bayern München ein Jahr lang aus)
Du kannst es einem, der hier aufwachsen ist, eigentlich nicht verbieten. Aber klar, ich muss vernünftig sein und gehe deshalb zum Beispiel nicht mehr auf die Kickers im Park. Logisch, es kann immer etwas passieren, aber ich gehe auch deshalb nicht mehr so häufig Skifahren, weil ich nicht mehr so viel Zeit habe wie noch in jüngeren Jahren. Ich habe mich zum Glück auch noch nie gröber verletzt. Darum ist es, glaube ich, okay. Wenn ich hingegen jeden zweiten Winter ein paar Wochen verletzt ausfallen würde, würde wahrscheinlich schon irgendwann jemand von Vereinsseite auf mich zukommen und sagen, dass ich mir überlegen soll, ob ich wirklich Skifahren soll.
Schlitteln ist ja auch gefährlich.
Schlitteln ist viel gefährlicher! Vor allem, wenn man das selten macht oder nicht geübt ist. Das ist so der Klassiker. Ich fühle mich auf den Skiern auf jeden Fall sicherer als auf dem Schlitten.
Interview: Christoph Baumgartner / -TNER
