Vom Einzelsport zum Team Player - Laurien van der Graaff
Zehn Schweizermeister-Titel und zum Abschluss ihrer Karriere Silber an den Nordischen Skiweltmeisterschaften 2021 im Teamsprint Freistil. Dann, mit 33 Jahren, trat die Schweizer Langläuferin Laurien van der Graaff zurück, schaffte als Key Account Managerin bei der Zurich Versicherung den Schritt ins Berufsleben, heiratete den ehemaligen Radprofi Peter Andres und wurde im Dezember 2024 Mutter.
Nach 19 Jahren Spitzensport hast du nach der Saison 2021/22 deinen Rücktritt erklärt. Wie hat sich dein Leben in den letzten drei Jahren verändert?
Irgendwie komplett! Mein Alltag war plötzlich anders. Ich hatte auf einen Schlag Freiheiten, die ich vorher nicht hatte. Danach bin ich in die Arbeitswelt eingetaucht, was in vielerlei Hinsicht natürlich auch neu war. Gleichzeitig hatte ich wieder eine Routine und jeden Tag neue Aufgaben, denen ich mich stellen durfte. Und seit 16. Dezember 2024 bin ich Mutter. Deshalb: Ja, es gab viele neue und spannende Dinge in meinen letzten drei Jahren.
Welches waren dabei, neben deinem neuen Leben als Mutter natürlich, die wichtigsten Veränderungen? Dinge, die früher mit Training und Wettkämpfen gar nicht möglich gewesen wären?
Es war schön, dass ich Wochenenden hatte. Das kannte ich zuvor gar nicht. Dass ich, wenn mich jemand treffen wollte, zusagen konnte – und nicht mehr: «Ja, ich weiss nicht, vielleicht, je nachdem.» Mein Sozialleben hat sich verändert. Ich kann andere Leute kennenlernen. Da hatte ich plötzlich mehr Zeit und Energie als zu meinen Spitzensportzeiten, das auch anzugehen. Vorher war das nicht wirklich möglich, weil ich meine ganze Energie ins Training steckte und nicht in so viele Menschen, wie ich das gerne gehabt hätte.
Wir kennen euch Athletinnen und Athleten vom Fernsehen, sehen eure Wettkämpfe und freuen uns, wenn ihr gewinnt. Aber wir haben keine Ahnung, wie euer Leben tatsächlich aussieht und gehen davon aus, dass es euch gut geht. Ihr werdet umsorgt, bekommt finanzielle Unterstützung vom Verband und den Sponsoren und gewinnt im besten Fall Preisgelder. Aber dann, nach dem Rücktritt, seid ihr selbst für euch verantwortlich und müsst den Schritt ins Berufsleben schaffen. Wie funktioniert so ein Wechsel?
In meinem Sport hatte ich bereits sehr viel Eigenverantwortung. Klar, der Verband gab viele Strukturen vor, aber ich war keine Teamsportlerin und musste viel in Eigenregie machen. Von dem her war ich so ein bisschen wie ein selbständiges Unternehmen. Aber natürlich war es auch mega schön, sich auf etwas und auch auf sich selbst konzentrieren zu können und von so vielen Menschen unterstützt zu werden. Aber in dem Moment, als ich mich entschied aufzuhören, wollte ich etwas komplett anderes machen, arbeiten gehen und vielleicht auch eine gewisse Verantwortung abgeben. Ich wollte in einen Grosskonzern reinschauen und ein neues Team kennenlernen.
Ich stelle mir das so vor: Du beginnst mit einem Sport, merkst, dass du talentiert bist, andere merken das auch. Du wirst gefördert, schaffst es an die Spitze, bleibst dort hoffentlich verletzungsfrei – und dann kommt der Rücktritt. Du verfügst ja über einen Bachelor of Science in Sportwissenschaften und Biologie, also hattest du bereits während deiner Aktivzeit einen Plan B.
Ja, man macht sich während der Karriere immer wieder Gedanken, was danach kommt. Das hatte zum Teil auch mit einer gewissen Unsicherheit oder Angst zu tun. Aber ich hatte gleichzeitig auch das Vertrauen, dass es gut kommen wird, wenn ich aufhöre und etwas finden werde, das mir Freude macht.
Weil ich vom Gefühl her zum für mich richtigen Zeitpunkt aufhörte, hatte ich auch keine Angst mehr und war wirklich motiviert, etwas zu suchen. Aus Angst wurde also Vorfreude. Ich ging sehr offen an das Thema heran, was ich sehr wichtig finde. Man kann sowieso nicht wirklich abschätzen, wie es sich anfühlt, wenn man aufgehört hat. Das ist so eine komplett andere Situation, die man nicht vorausdenken kann. Und darum habe ich gar nicht erst versucht, viel zu weit in die Zukunft zu denken. Ich hätte ja auch keine Lust haben können, direkt arbeiten zu gehen, sondern einmal zu reisen oder etwas komplett anderes zu machen. Also liess ich es auf mich zukommen.
Nicht alle Sportlerinnen und Sportler gehen so entspannt mit dem Rücktritt um. Wie war deine Landung im «normalen» Leben?
Es hängt davon ab, wie und was du vorher warst. Wenn du die Anerkennung von aussen brauchst, um dich gut zu fühlen, dann kann ich mir schon vorstellen, dass diese Landung sehr hart ist. Aber wenn du zufrieden und glücklich bist, auch wenn du nicht möglichst schnell von A nach B rennst, ist die Gefahr wahrscheinlich nicht so gross. Ganz sicher kann man sich aber nicht sein. Und eben: Ich habe nicht von Beginn an antizipiert, was ich anschliessend machen werde. Glücklicherweise war meine Landung weich.
Wie entstand dein Kontakt zu Athletes Network?
Ich hatte eine Freundin, die dort arbeitete und fand es wirklich eine tolle Sache mit einem guten Team. Sonst war ich eigentlich immer eine Person, die bei Problemen immer alleine Lösungen suchte. Schon während meiner Karriere dachte ich: Ok, es gibt ein Problem und ich löse das möglichst schnell und alleine. Als ich von Athletes Network hörte, dachte ich, jetzt kann ich das wirklich mal anders machen, Unterstützung annehmen, zuhören und von den Erfahrungen und dem Netzwerk profitieren kann. Mir machte es Spass, als ich Hilfe bekam, und ich bin sehr dankbar, dass ich das so machen konnte.
Wenn man sich das Team von Athletes Network anschaut: Da sind ehemalige Sport-Cracks wie Beni Huggel, Martina Moser oder Rahel Kiwic dabei, die alle eine Sportkarriere hinter sich. Sie wissen also, wovon sie sprechen.
Ja, absolut! Einerseits sind da die Leute, die wissen, wie es ist, mit welchen Problemen man sich als Athletin oder Athlet auseinandersetzen muss. Und andererseits gibt es auch die, die wissen, was in der Arbeitswelt vor sich geht. Dieser Mix macht es wirklich aus, um kompetent und mit dem nötigen Verständnis helfen zu können.
Zeit für einen kleinen Werbespot für Athletes Network. Warum sollen sich bereits aktive Sportlerinnen und Sportler um ihre Karriere nach der Karriere kümmern? Wie können sie von Athletes Network profitieren?
Während der Sportkarriere hat man weder Zeit noch Energie, sich mit der beruflichen Zukunft auseinanderzusetzen. Hier bietet Athletes Network Hilfe an, gewisse Hürden zu überwinden und die Angst vor dem, was nachher kommt, zu nehmen.
Das Team hat so ein gutes Netzwerk und so viele Ideen, die man selbst einfach nicht sieht, weil man so im Spitzensport drin ist. Deshalb ist es gut, von jemandem profitieren zu können, der viel Erfahrung hat und sich tagtäglich mit dem Thema auseinandersetzt.
Du hast wie gesagt den Bachelor in Sportwissenschaften und Biologie und arbeitest jetzt bei der Zurich Versicherung. Thematisch ist das ein ziemlicher Sprung. Wie kam es dazu?
Ich fing natürlich gleich nach meiner Matura am Sportgymnasium mit dem Studium an. Zu diesem Zeitpunkt, also mit knapp 19, war das für mich klar, gleich zu studieren. Auf Wirtschaft hatte ich überhaupt keine Lust, sondern hätte viel lieber Medizin gewählt – bis ich merkte, dass ich gar nicht Ärztin werden wollte. Deshalb waren Sport und Biologie sehr spannend, weil ich mich mit Sport, dem Körper und all diesen Prozessen gerne auseinandersetzte. 15 Jahre später sehe ich meinen Job nicht mehr in diesem Gebiet. Ich merkte, dass ich wirklich gerne mit Menschen zu tun habe und gerne in einer grossen Firma arbeiten würde. Darum ja, es ist sicher ein grosser Sprung. Aber mittlerweile habe ich auch ein CAS in der Versicherungsbranche gemacht und versuche, dort Fuss zu fassen.
Ich habe so den Eindruck, dass Langlauf…
…unheimlich streng ist, ja…
Ja, natürlich! Aber die Frage geht in eine andere Richtung. Du hast 2021 an den Nordischen Skiweltmeisterschaften in Oberstdorf zwar Team-Silber im Sprint Freistil gewonnen. Im Gegensatz etwa zu Fussball, Eishockey und Volleyball ist Langlauf aber grundsätzlich ein Einzelsport.
Ja, das ist so.
Musstest du – quasi als Einzelkind auf Langlaufskis – für dein Berufsleben zuerst «Team» lernen? Wie war dieser Wechsel für dich?
Das ist vielleicht der Eindruck, den man von aussen betrachtet bekommt. Einzelsportarten. Letztlich ist man auf sich gestellt, alleine am Start, und man trägt die ganze Verantwortung für sich selbst. Aber auch wenn man Trainings und Rennen alleine absolviert, hat man besonders an Wettkämpfen immer auch ein grosses Team um sich herum. Die Stunden, die man alleine verbringt, sind also nicht so gross wie die Zeit mit dem Team, die wichtig ist, damit es funktioniert. Der Spass mit den Teamkollegen, Trainern und Serviceleuten überwiegt. Diese Menschen gehören zu deinem normalen Leben. Deshalb war es für mich nach dem Rücktritt nicht schwierig, mich in einem neuen Team zurechtzufinden.
In einer Mannschaftssportart kannst du immer mal wieder andere dafür verantwortlich machen, wenn man verliert.
(lacht) Das kommt nicht so gut an, ja.
Nimmt deine neue Arbeit im Team auch ein bisschen Druck weg? Es steht und fällt ja nicht mehr alles mit dir.
Ja, absolut. Also klar, ich suche jeden Fehler immer noch zuerst bei mir. Als Spitzensportlerin hat man irgendwann selber so viele Erfahrungen gesammelt, dass dir nicht mehr so viele Leute weiterhelfen können. Aber als Quereinsteigerin in der Versicherungsbranche bin ich die neue in einem Team, in dem ich von den Erfahrungen anderer lernen darf. Das ist neu für mich. Aber ich weiss natürlich nicht, ob ich nochmals so viel Druck in meinem Leben haben werde, wie dort, als ich z.B. an den Olympischen Winterspielen am Start stand.
Wie konntest du deinen Ehrgeiz, deinen inneren Antrieb, den du für den Spitzensport gebraucht hast, auf die Berufswelt adaptieren?
Das Wort «Ehrgeiz» gefällt mir nicht, weil es das Wort «Geiz» beinhaltet. Ich habe immer versucht, grosszügig zu sein und mich auch für andere zu freuen. Nur wenn man das kann, kann man auch selbst erfolgreich sein. Das habe ich mir auf die Fahne geschrieben. Und ich habe immer probiert, mutig zu sein. Das ist so ein wenig meins. Und deshalb versuche ich, auch jetzt in meinem beruflichen Alltag mutig zu sein. Und offen, Neues zu lernen und anderen Menschen zuzuhören. Ich habe gelernt, dass die mutigen Entscheidungen immer die besten waren. Und ich habe auch nie ein «Ja» bereut, sondern eher ein «Nein». Meine positive Einstellung kann ich gut vom Sport in meine jetzige Welt übernehmen.
Was gibst du jungen Sportlerinnen und Sportlern, die am Anfang der eigenen Karriere stehen, mit auf den Weg?
Macht so lange Spitzensport, wie ihr könnt, wollt und Lust habt und ihr das Gefühl habt, noch etwas erreichen zu wollen. Nachher stehen euch immer noch viele Türen offen, ihr müsst keine Angst haben. Weil, naja, wenn man einmal aufhört mit dem Spitzensport, auch wenn jetzt viele gerade ein Comeback machen…
…so Lindsey Vonn-mässig…
…genau! Aber eigentlich ist es dann weg. Man ist einfach woanders athletisch. Ich empfinde meine Zeit im Spitzensport als Geschenk, und das bewahre ich mir auch so. Es war wirklich eine schöne Zeit. Deshalb: Kostet es aus und habt keine Angst vor dem, was nachher kommt.
Ich könnte jemanden bei der Zurich Versicherung fragen: Was sind die Vorteile, wenn man mit Laurien van der Graaf zusammenarbeiten darf? Ich glaube, ich lerne sehr schnell, bin proaktiv, extrem motiviert und darum auch immer positiv eingestellt. Ich habe ja keine Lehre in einer Versicherungsbranche absolviert und stelle deshalb viele Fragen, hinterfrage vielleicht manchmal auch, was auch gut ist.
Es gibt ein Video von dir und deiner Arbeit bei der Zurich Versicherung. Und da ist diese eine Sequenz, als du im Teammeeting mit deinen Kolleginnen und Kollegen warst. Da habe ich mir gedacht: Laurien van der Graaff ist angekommen.
Ja, ich schätze mich sehr glücklich. Wir haben ein mega lässiges Team. Viele Menschen wollen wieder zurück ins Homeoffice, aber ich gehe unglaublich gerne ins Büro, wenn alle dort sind. Für mich ist das so wertvoll und vergleichbar mit meiner Zeit im Spitzensport. Wenn das Team lässig ist, ist man gerne unterwegs, geht gerne ins Trainingslager und verbringt gemeinsam Zeit und motiviert sich gegenseitig. In meinem Job ist das genau gleich.
Was ich bei dir raushöre: Du würdest es wieder gleich machen, wie du es gemacht hast.
Ja, das würde ich. Wie gesagt bereue ich das «Ja» nie. Ich habe für mich den richtigen Zeitpunkt gefunden aufzuhören. Deshalb konnte ich auch gut loslassen und war offen, Hilfe zu bekommen, um etwas Neues zu lernen. Und ich durfte so viele tolle Leute kennenlernen, weil ich offen war für eine komplett andere Richtung. Viele haben mich damals gefragt, ob ich weiter innerhalb des Sports hätte bleiben und arbeiten wollen. Aber ich wollte von Menschen lernen, die andere Erfahrungen gemacht haben, die ein anderes Leben hatten. Und ja, das habe ich nicht bereut und werde es wohl auch nie bereuen.
Interview: Christoph Baumgartner / -TNER
Fotos @ Zurich Versicherungen: SIMEON WÄLTI